„Bei der Integration haben wir gut 20 Jahre verschlafen“

Quelle: KRZ von Werner Held 14.11.2011

Gans essen, Bilanz ziehen und sich von einem Gastredner Inspiration für die Zukunft geben lassen – das ist das Ziel des Politischen Martini der SPD im Kreis.

Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter beim 13. Politischen Martini der SPD in Darmsheim – Bei den Genossen herrscht Aufbruchstimmung An die 200 Sozialdemokraten kamen dazu am Freitagabend zum 13. Mal in der Turn- und Festhalle in Darmsheim zusammen.

DARMSHEIM. Florian Wahl, der seit März für die SPD im Wahlkreis Böblingen/Sindelfingen im Landtag sitzt, hat die Tradition von seinem Vorgänger Stephan Braun übernommen. Er ist mit der Resonanz auf seinen Premieren-Martini zufrieden. „Wir haben 140-mal Gans und etliche Portionen Gemüsemaultaschen verkauft. Das ist deutlich mehr als im Vorjahr“, sagt er mit freudestrahlender Miene.

2010 hatten sich die Genossinnen und Genossen aber auch noch die all die Jahre zuvor als Mitglieder einer Oppositionspartei im Land zum Politischen Martini getroffen. „Noch vor Jahresfrist“, rief Wahl seinen Parteifreunden zu, „galt Baden-Württemberg als uneinnehmbare CDU-Bastion. Wenn ich heute durch den Landtag gehe, muss ich mich manchmal zwicken, um zu realisieren, dass es möglich war, die Mehrheit zu ändern.“ Auch Felix Rapp, Vorsitzender des SPD-Kreisverbands, der den Politischen Martini mit ausrichtet, spürt eine Aufbruchstimmung in der SPD, die er so bisher noch nie erlebt hat.

Dass der grün-roten Euphorie bald die Ernüchterung folgen könnte, glaubt Florian Wahl nicht. „Wir arbeiten mit den Grünen gut und vertrauensvoll zusammen“, berichtete er aus Stuttgart und schob nach: „Auch an Stuttgart 21 wird die Koalition nicht zerbrechen!“ Wie gut Rot und Grün harmonieren, zeigte sich auch am Freitagabend: Zur Hochstimmung der Gansesser trug das Trio Bergkamel mit dem Grünen-Kreisvorsitzenden Sven Reisch am Schlagzeug bei.

Ein Politikfeld, das Grün-Rot in den Mittelpunkt seiner Regierungsarbeit rücken will, ist die Integration von Zuwanderern. Während Schwarz-Gelb dafür lediglich eine Stabsstelle mit fünf Mitarbeitern im Justizministerium übrig hatte, leistet sich die neue Landesregierung ein eigenes Integrationsministerium mit Bilkay Öney, die selbst Migrantin ist, an der Spitze. Über das Thema „Integration – Herausforderung und Chance“ sprach Florian Wahl am Freitagabend mit Edzard Reuter.

Reuter, Sozialdemokrat seit 1946 und Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG von 1987 bis 1995, hat in seiner Jugend elf Jahre lang in Ankara gelebt, weil seine Familie vor den Nazis hatte flüchten müssen. „Ich war dort integriert. Ich bin ein halber Türke“, berichtete der Gast aus seinem Leben. 1964 kam er zu Daimler. Zu dieser Zeit tauchten auch die ersten „Gastarbeiter“ am Band auf. „Das Thema hat mich damals zunächst nicht interessiert, weil ich wie alle, wie im Übrigen auch die Betroffenen selbst, davon ausging, dass sie nach einigen Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden“, bekannte Edzard Reuter.

Doch Türken, Italiener, Spanier, Griechen blieben, holten ihre Frauen und Kinder nach und ließen sich auch von Rückkehrprämien nicht wieder aus Deutschland weglocken. Die große Politik, so Reuters Beobachtung, interessierte sich überhaupt nicht für die Frage, ob die Zuwanderer auf Dauer Fremdlinge bleiben oder sich in die deutsche Gesellschaft eingliedern würden. Nur die Städte hätten sich um die Integration gekümmert. „Wir haben da gut 20 Jahre verschlafen“, sagt Edzard Reuter. „Das Gefühl, dass die Migranten Fremdlinge sind, hat sich zwar heute abgeschwächt, ist aber unterschwellig noch vorhanden.“ Reuter ist überzeugt: „Die Integration der Migranten ist eine Chance für die Kreativität der deutschen Gesellschaft.“

Der 83-jährige Ex-Daimler-Chef redet nicht nur über Integration, er hat 1995 gemeinsam mit seiner Frau die Helga-und-Edzard-Reuter-Stiftung gegründet. Sie unterstützt „Bemühungen, die auf wissenschaftlichem Gebiet oder in der praktischen Arbeit dem friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder kultureller Herkunft in der Bundesrepublik dienen und damit die Integration unserer Gesellschaft voranbringen“.

Bildung als wichtigste Grundlage für Integration

Reuter wirbt dafür, die Integration auch auf dem „zivilgesellschaftlichen Weg“ voranzutreiben. „In vielen Sportvereinen geschieht das vorbildlich“, nennt er ein Beispiel. Doch die wichtigste Grundlage für Integration sei „Bildung, Bildung, Bildung. Aber das setzt genügend Lehrpersonal und vernünftige Schulräume voraus“.

Am Ende fragt Florian Wahl seinen Gast, ob es in der Bundesrepublik zuerst einen Bundeskanzler oder einen Daimler-Chef mit Wurzeln im Ausland geben werde. „Wir haben schon einen Daimler-Vorstandsvorsitzenden mit Migrationshintergrund“, entgegnet Edzard Reuter lachend. „Dieter Zetsche ist in Istanbul geboren.“ Und er sieht auch an anderer Stelle hoffnungsvolle Zeichen: „Wir haben es immerhin bereits geschafft, dass ein Schweizer Bürger Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank geworden ist.“